Kostenloser Roman "Der Mondschall"

Kapitel 1 - Missioniert

Ein klarer Sternenhimmel kreist über dem Astronautenhelm. Kleine grelle Punkte kleben in der Reflektion seiner Scheibe. Die einen kommen vom Firmament, die anderen, rot blinkenden Punkte entstammen dem Interface. Mit modernster Technik wurde dem Astronauten ein Interface mitgegeben, mit dem er sich direkt über eine Projektion auf seinem Sichtglas orientieren kann. Da dieser derzeit noch regungslos und nur sehr langsam erwacht, würde es ihm jedoch so schnell keine Hilfe bieten. Seine Vitalzeichen werden in dem Interface nur mit einer Fehlermeldung abgebildet, da er seinen Raumanzug derzeit nicht angezogen hat. Nackt und mit blutenden Stümpfen, dort wo sein rechter Arm und sein linkes Bein sein müssten, schwimmt er in seinem langsam zu einem dicken Brei gefrierenden Blut. Hin und wieder greift eine Feuerpeitsche über die spiegelnde Glaskuppel seines Helms. Neben ihm lodert der Brand durch die Türen des Cockpits des Landungshuttles „Awakening“. Als sich die Augen von Commander Freud öffnen, kommen auch die phantomen sowie die echten Schmerzen in seinen zerstümmelten Körper zurück. Da der Brand sich noch nicht bis in das Cockpit ausgebreitet hat, wird Astronaut Henry Freud noch nicht allzu lange hier gelegen haben und der Sauerstoff scheint genug Spielraum zu geben, um für einen Moment die Flucht aus dem Shuttle zu planen. Zunächst müsste er aber dringend die Tür verriegeln, damit die Feuerzungen nicht weiter an seinem kostbaren Atem lecken. Die große Aussichtsluke über ihm ist ebenfalls intakt und ein Zischen durch ein Leck scheint er nicht zu vernehmen. Auch der Radioaktivitätsmesswert hat nicht kritisch ausgeschlagen, sodass die Filterfunktion in dem Glas und auf der Außenhülle noch nahtlos beständig sein musste. Jupiter grillt seine inneren galileischen Monde praktisch mit Radioaktivität. Europa, Freuds geplantes Landungsziel, erträgt selbst täglich 5,4 Sievert. Zum Vergleich, auf irdischer Meereshöhe beträgt die durchschnittliche Strahlenbelastung nur 0,3 Millisievert. Darum mussten besondere Vorkehrungen im Glas, der Shuttles und in der Ausstattung für Astronauten getroffen werden.

Über die restlichen Aussichtsluken, die sich herum um das Cockpit verteilen, sieht Henry, dass die Awakening einige Meter in den Boden gerammt war, jedoch nicht tief genug, um den letztmöglichen Notausgang durch die große Luke über ihm zu versiegeln. „Bordcomputer?“, eine rauheiserne Stimme schallt durch Freuds Kehlkopf, „Bordcomputer, aktivieren und Status des Shuttels scannen. Außerdem möchte ich einen Lagebericht der Technik an der Sleeper.“ Freud erinnert sich, dass das Mutterschiff „Sleeper“ noch im Orbit von Europa kreist oder im schlimmsten Fall nur nah an ihm und seit Freuds Aufprall auf dem Jupitermond vielleicht schon Sprünge von Europa entfernt sein konnte. Ein Asteroideneinschlag musste die Sleeper stark beschädigt haben, sodass der Commander während seines Kryoschlafs mit seinem Shuttle direkt auf Europa entsandt wurde. Zwar handelte es sich um den groben Missionsort, aber die Landungskoordinaten sind vollkommen falsch. Der Bordcomputer des Shuttles wurde beim Einschlag der Allsteine beschädigt und wichtige Teile flogen fernab, um an unbekannten Landungspunkten in Europa einzuschlagen. Er erinnert sich auch, dass der Computer und seine Medi-Funktionen falsche Kalkulationen machte und auch die Kryosimulation vollkommen schief lief. Er hatte eine Art Fiebertraum, in dem er in einem fremden Körper durch ewiges Eis wandelte und zusätzlich von einem Charakter eines Soldaten aus dem ersten Weltkrieg befallen war. Zwei fremde Persönlichkeiten beherrschten ihn und seine Gedankenwelt, die sich eigentlich in der verschlafenen Kryosimulation auf die Forschungsmission auf Europa vorbereiten sollte. Doch nun sitzt er fest mit einem nicht antwortenden System, abgetrennten Gliedmaßen und einem fürchterlich dröhnenden Schädel, der beim Aufprall der Awakening schwer durch seinen Helm geschleudert wurde. „Bord-Com-Puter! Aktivieren…“ er wurde von einem röhrenden Piepton unterbrochen und einer elektronischen Stimme, die sich anhörte, als wäre sie sie gerade aus dem Roboterkörper eines Kampfhumanoiden gekrochen. Erschaudernd tief rollt die Stimme auf den am Boden gelähmten Henry zu und verklingt schnell in der ihm bekannten Stimme des Medi-Systems, „Commander, ich stelle Schäden an der Awakening fest. Ihre Vitalzeichen kann ich leider nicht ablesen, bewegen Sie sich zurück in Ihre Kryokammer.“ Commander Freud hatte fast vergessen, dass er vor wenigen Momenten noch im Sturzflug auf Europa in diesem Metallsarg erwachte. Eigentlich sollte ihn diese Kammer im Kryoschlaf halten. Damit wäre sein Flug zu Europa deutlich angenehmer und lebenserhaltender gewesen. So aber stützte sich die Fehlfunktion des Medi-Bots auf seinen Körper und entfernte fälschlicherweise einen Arm und ein Bein. Alles wegen einem angeblichen Nahrungsmangel. Die Prothesen hatte das System ebenfalls nicht richtig angesetzt, da die sekundären, chirurgischen Greifarme innerhalb des Kryosargs defekt waren. Nun also liegt er mit einem wahnsinnigen Computer und als Halbstumpf im Cockpit seines Missionsshuttles. Zurück zur Marsstation würde er vermutlich auch nicht mehr kommen, da die Sleeper mindestens halbzerstört im All kreist und er keinen Kontakt zu dem unbemannten Treibstoffgiganten herstellen könnte. Um sich über solche Auswege überhaupt Gedanken machen zu können, müsste Henry zunächst erst von seinem Blutaltar aufstehen und sich zusammenflicken. „Bordcomputer, Medi-Modus umschalten. Ich möchte sofort Prothesen angeschlossen bekommen.“ weißt er das System an, während er sich mit seinen restlichen Gliedmaßen über den Boden zurück zum Kryosarg schleift. „Commander Freud in Operationslage begeben. Patient erwacht, Anisthätikum aufwärmen, da Außentemperaturen Ampullen gefroren haben könnten. Patient von Bauch- in Rückenlage bringen. Zwei große Arme fahren von der Decke des Cockpits herab. Ihre Mechanik löste sich mit einem leichten Knacken. Diese Technik ist fast unsichtbar in die Innenwand eingearbeitet. Mit der nahtlos perfekten Drehung des Industrieroboterstandards des 22sten Jahrhunderts verwandeln sich die Wandstücke in die für die Computer-Anweisung notwendigen Arme. Auch wenn der Astronaut die Arme in der Wand nicht gleich gesehen hat, musste sie sich dennoch mit einem leichten Ruck aus der Fassung der Innenwand befreien, bevor sie sich in ihr perfekt programmiertes Bewegungsmuster ausrichten konnten. Die Innenwand musste auch durch den Aufprall verzogen sein. Überhaupt ist es ein Wunder, dass Henry den Aufprall überlebte. Ähnlich der Simulation während seines Kryoschlafs hatte er während seiner Bewusstlosigkeit nach erschütterndem Kontakt mit Europa wieder eine dieser Vorstellungen eines anderen Lebens. Diesmal schien er aus dem Koma erwacht zu sein und sich mit unmenschlicher Kraft aus dem Fenster eines Krankenhauses gestürzt zu haben. Da er zum Zeitpunkt des Aufpralls nicht mit dem Simulationsmodus verbunden war und der Computer vollkommen verrückt spielte, konnte dies eigentlich keine virtuelle Traumwelt sein, die Vision kam von anders her. „Aufrichten des Patienten.“ Die beiden Arme greifen unter den Bauch von Freud, der noch schnell nach der Beinprothese in der nahen Kryokammer schnappt. Behutsam richten sie ihn auf und er stützt seinen abgelaserten Beinstumpf auf die starre Prothese. Das System erkennt seinen Versuch und meldet sich mit einer Aktualisierung, „Patient mit Prothese sichern.“ Ein weiterer kleiner Arm versucht, aus der schweren Abdeckung der Kryokammer zu kriechen. Jedoch hört Henry nur schwache Motorengeräusche und sieht das leichte Zucken der Platte, die nur zur Hälfte noch auf der Kammer befestigt anliegt. „Patientenversorgung nicht möglich, Notinstrumente zur manuellen Behandlung aus Akutversorgungskammer besorgen. Diese Schritte und Eingriffe sind durch den Patienten selbst zu lösen.“ Was das System Commander Freud da mitteilte, war ein wahres Urteil. Er müsste die durch die lodernde Tür humpeln, beziehungsweise sich von den Armen in ihrer maximalen Reichweite an die Tür setzen lassen, und dann durch das Feuer an die Akutversorgung gelangen. Mit diesem Euphemismus ist ein Notfallpaket beschrieben, in dem klassisches medizinisches Material verstaut ist, sodass im Ausfall der Systeme ein Patient sich selbst operieren könnte. Der letzte, denkbare Ausweg, aber kein unmöglicher, wenn man an historische Ereignisse denkt. Bereits 1961 schaffte es ein Mann, sich selbst zu operieren.

„Medi-Modus, zurück zu Bordcomputer schalten, zum Dashboard navigieren und Übersicht des Schadens an der Slepper zusammenfassen“, Henry lässt sich das Ausmaß durch den Aufprall vorlesen und stellt dabei fest, die Slepper hat überraschenderweise recht wenig Schaden durch den Aufprall genommen – ihr Gesamtschaden war nach dem Asteroideneinschlag beträchtlich, aber das System scheint nicht direkt explodiert zu sein, sodass ein Löschkommando des Nebenraums ausreichen könnte, um Zugang zur Akutversorgung zu ermöglichen. „Bordcomputer, fahre mich vor zur Tür zum Dekompressionsraum.“ Ohne eine Antwort schiebt die Armmechanik den Commander auf Wunsch zur Schwelle zwischen Dekompressionskammer und Cockpit. Die stechend scharfen Feuerzungen scheinen aus den Treibstoffventilen auszutreten, die mit einer inneren Sicherung vom Haupttank geschützt waren, sodass auch dieser Brand vermutlich bald von selbst ausgehen müsste. Jedoch würde Henry nicht noch mehr Sauerstoff verbrennen wollen, den er zum Fluchtplanen noch benötigte. Der Brand müsste durch aufeinandergeschlagene und funkende Metallteile ausgelöst worden sein. Durch die nicht von Flammen verschlungene Dunkelheit in den Ecken der Kammer erkennt er jedoch nicht, ob ein Feuerlöscher noch vorhanden war oder von verbogenem Metall verschluckt wurde. Als er sich durch das leicht verbogene Shuttlegewölbe durchsieht, fällt ihm auf, dass einige merkwürdig geformte Eiszapfen durch die dick gepanzerten Sichtluken der Dekompressionskammer gerammt sind. Sie haben das Glas anscheinend luftdicht durchbohrt und halten die Metallruine nun fest im Eis. Henry hiefte sich aus den leicht wackelnden Roboterarmen, nur um sich schnell mit seinem verbliebenden Arm am Metall wieder abzustützen. Fast wäre er zu Boden gestürzt. Trotz des Adrenalins ist sein Körper so schwach, dass er sich kaum auf seinem Bein halten kann. Einige gelaserte Stellen an seinen Stümpfen sind nicht fachgerecht geschlossen, sodass etwas Blut weiterhin austropft und er seine Blutarmut durch Schwindel und Schwanken spürt. Henry springt auf seinem Bein über die Metallsplitter, die wohl von der Decke der Kammer abgeplatzt sein mussten. Ein besonders hartes Metall schützt das Shuttle von außen. Innen jedoch ist eine Mischung aus Karbon und Leichtmetallen verbaut, wie sei seit Jahrhunderten in der Raumfahrt üblich sind; die Konstruktionslogistik der Sleeper inklusive Awakening-Shuttle wurde bereits 2045 begonnen, also vor über 50 Jahren, sodass der Bau auf dem Mars mit vielen alten Teilen begonnen wurde. Man hatte nicht durchgeplant, das Landungsshuttle wenigstens mit den neuesten Stoß- und Absturzsicherungen auszurüsten, wie es in den Hochgeschwindigkeitstransportern auf den Speedways eigesetzt wird. Die Awakening wurde als Teil der Sleeper mitgedacht und darum auch bei ihrem Bau fest integriert in das Mutterschiff. Trotzdem hat die Außenhülle stand gehalten, wie durch ein Wunder, dachte sich Commander Freud.

Durch seine einbeinigen Sprünge und Beeinträchtigung seines Gleichgewichts, landet er immer wieder in den Splittern der Innenhülle. Schmerzhaft bohren sich einige Metallteile in seine nackten Fußsohlen. Mit zusammengebissenen Zähnen lehnt er nun an den heißen Wänden der Kammer und kriecht, mit Schulter und Arm angelehnt, entlang bis zu einem kleinen Kasten unter den brennenden Ventilen. Dort muss sich ein Feuerlöscher befinden, glaubt Henry. Er bewegt sich langsam weiter auf die Ventile zu und duckt sich mit aller Kraft auf seinem Bein ab. Dieser Balanceakt kostet ihm viel Zeit, in der der Sauerstoff aufgrund der Verbrennung über ihm, immer knapper wird. Ruhig atmet er aus, während er sein Körpergewicht auf seinem blutigen Fuß abstützt. In der Anstrengung tropft das Blut seiner leicht offenen Wunden das Bein hinab und beginnt auf dem warmen Metallboden zu dampfen. Ihm fällt auf, dass das Feuer entweder immer schwächer zu werden scheint oder ihm die Flammen in seiner vernebelten Sicht beim Aufwachen vorhin nur viel größer vorkamen. Er merkt aber auch, dass der Sauerstoff tatsächlich immer knapper in der Kammer wird. Schnell müsste er die Tür zum Cockpit schließen und den restlichen Sauerstoff in diesen Konsolenraum umverteilen. Henry verliert den Halt und fällt mit dem Gesicht voran zu Boden. Er stützt sich mit seinem Arm auf und blickt mit verbissenem Ausdruck zu dem kleinen Metallkasten vor seinem Gesicht. Er legt sich wieder hin, um mit seinem Arm nach vorne zu greifen. Seine Hand schnellt zu dem Kasten und klopft mehrfach gegen die Außenhülle. Irgendwo müsste sich ein kleiner Druckknopf befinden, mit dem das Fach geöffnet werden könnte. Endlich, er findet einen winzigen Stab am Rand der Box, drückt ihn ein und ein Sicherungsmechanismus bricht auf. Ein kleiner Arm strömt aus dem Fach, umschlaucht von einem gummiharten, hitzebeständigen Material. Ein kleiner Sprinkler öffnet sechs Löcher am Ende des Arms und weißpudernde Strahle fliegen auf die Flammen zu. Der Arm scheint sich zu entspannen, damit der Schlauch und seine kinetische Energie unkontrolliert durch den Raum springt. Henry bekommt eine Menge des Löschmittels ins Gesicht und legt sich mit einem halbverkrampften Lachen schnell mit der Fratze zu Boden. Er hätte damit gerechnet, einen altmodischen Feuerlöscher von selbst zu betätigen, aber natürlich, ein solches System ergibt Sinn. Schließlich sind keine gefährdeten Systeme in der Kammer, die ein präzises Löschen benötigten. Nach etwa fünf Minuten war die Kammer wieder Dunkel und letzte Reste Löschmittel krochen aus dem Arm. Etwas kläglich tropft das weiße Puder-Gel-Gemisch aus den sechs Löchern. Der Arm liegt erst regungslos da und wird dann von einer Spule zurück in die Kammer gezogen. Commander Freud blickt durch den dichten, weißen Staub, der von der Decke herab rieselt. Ein kräftiges Husten hält ihn für ein paar Minuten auf, sodass er mit stark roten, trockenen Augen zurück zu Tür zum Cockpit kriecht und nach den mechanischen Armen brüllt, „System hol mich zurück in den Kryosarg und…“ sein Gedanke wird unterbrochen, als ihm auffällt, dass das Schlimmste noch bevor steht, „Befehl abbrechen“. Mit dem Kopf zum Boden liegend hört er, wie das Quietschen der Arme sich wieder von ihm entfernt. Fast hätte er die medizinische Notfallbox vergessen. Er richtet sich am Türrahmen auf und presst sich die Wand entlang, suchend nach einer weitere auffälligen Kiste in der Wand, die er von einem Sicherungsmechanismus befreien müsste – Bingo! Dort unten, etwa drei Meter von der anderen, mechanisch gesprengten Box, befindet sich eine metallisch quadratische Auswölbung in der Wand. Ihr Rot ist von dem weißen, kalten Puder pinkverblasst und sieht allgemein etwas mitgenommen aus. Hoffentlich hat das Equipment überlebt. Henry bewegt sich auf die Stelle zu und stürzt sich diesmal direkt zu Boden. Er findet, es bringt sowieso nichts, sich Mühe für seine Gelenke zu geben, wenn er nur Zeit mit Balancieren verschwendet und seinen Körper nicht retten könnte. Er findet den Sicherungsstift und die Box platzt auf. Ein schwerer Beutel fällt in Henrys Hand und der Commander robbt mit ihr voran zurück zur Tür. „Bordcomputer hol mich nun zurück in die Kryokammer und bereite Infusion vor. Ich werde mit manueller Chirurgie beginnen.“ In diesen Worten steckte genug Grauen für Henry. Ihm ist durchaus bewusst, auf was er sich in den nächsten Stunden einlassen würde. „Patient wird in Operationsposition zwei manövriert, bitte treten Sie zurück.“ Das System stammt aus den neuesten, digitalen Kliniken in Südkorea. Darum sind einzelne Sprachschnipsel und Logiken vorhanden, die auf Ärzte und Hospitierende zutreffen. Man hat sich während der Konstruktion sehr darum bemüht, all diese Rudimente zu entfernen, aber die Programmierung ist sehr durchwachsen. Die Techniker glaubten, sie seien auf der sicheren Seite, wenn das System möglichst unangetastet und autonom bleibt, damit keine ungetesteten Fehler plötzlich im Einsatz auftauchen. Allgemein ist die ganze Sleeper-Mission eine riesige Improvisation gewesen, da man erst vor einigen Jahrzehnten organisches Material in der Atmosphäre entdeckt hatte, das auf komplexeres Leben schließen lässt. Vorher hatte man angenommen, dass in den Ozeanen unter Europas dicker Eiskruste vielleicht gar nichts auch nur vegetieren könnte, aber mit der großen Menge Ammoniak, die als Wolke plötzlich aus einem tektonischen Riss ausgepresst wurde, war das Interesse der Öffentlichkeit und Politik sehr gebannt auf den Riesen. Die Menschheit kroch schon lange genug in der Schwebe durch ihr Sonnensystem, nie die Sicherheit haben zu können, ob außerirdische Begleiter sich dieses mit ihnen teilen könnten. In all den ökologischen Krisen, die die Erde seit Jahrzehnten hatte, brauchten die Menschen etwas, das sie über Grenzen hinweg faszinierte; ein Event, gleich dem Flug zum Mond. Das Interesse an Europa war zunächst verbrannt, da nach den Missionen bis 2040 keine neuen Informationen über das Leben unter dem Eismond hervorkamen. 2087 wurde eine neue Sonde zu Europa geschickt, die sich in das Eis graben sollte. Dazu wurde der perfekte Landeplatz für den Probenbohrer gewählt, an dem keine Tektonik die Ausgrabung gefährden könnte. Etwa 3 Monate später, Mitte 2091 sollte die Maschine im Eis beschäftigt sein. Über die 4 Jahre wurde sie mit einem Schiff des Typs „Discovering“ losgesandt, ein Vorgänger der Sleeper, welches um lebenserhaltende Systeme reduziert war. Natürlich lief also alles unbemannt ab, was leider der Fehler oder der Segen der Mission war. Aus finanzieller Sicht bestimmt ein gewaltiger Fehler, wenn man den Missionsausgang betrachtet, aber aus ethischer Sicht ein Segen. Mit einer Besatzung hätte man die versagende Technik jedoch besser bewerten können. Und all das ist der Grund, warum diesmal Commander Freud in seiner Awakening im Eis gefangen sitzt. Er sollte die Fehler der letzten Erkundung bewerten. Dazu wurden für einen Menschen die möglichsten Sicherheitsvorkehrungen bedacht. Während des Baus der Sleeper hatte man zwar auf neues Material verzichten müssen, da der Transport zur Marsstation einige Jahre dauerte, aber man hat nach 2091 viel aus der Discovering-Mission gelernt und die Planung der Sleeper und den Bordcomputer hinsichtlich der Lebenserhaltung angepasst. Eigentlich sollte das Awakening-Shuttle nur für die Landung sein und nicht zum Rückflug. Dazu wäre ein anderes System notwendig, aber da der Computer sich trotz der Zerstörung der Sleeper für eine Landung entschied, ist Henrys Urteil letztlich gefallen. Er würde vermutlich nicht zurück in den Orbit kommen, seine Frau nie wieder sehen. Mit dem anderen System hätte er vermutlich auch die Landung geschafft, viel sanfter als mit der Awakening. Und er wäre auch vom Mond wieder zurück gekommen. Erstmal aber widmet sich der Astronaut seinen Wunden. Die Infusion wurde ihm bereits vor seiner Ankunft auf dem halbzerstörten „Operationstisch“ angelegt, sodass er keine Schmerzen mehr mitbekam. Er beginnt mit der Beinprothese und sucht nach einigen Verbindungsstücken, die er in seinen Stumpf und das mechanische Glied anschließen müsste. Grundsätzlich sind diese Biomechaniken recht einfach anzubringen, da ihre Verbindungen zwar synthetisch sind, aber sehr kompatibel mit dem menschlichen Nervensystem, ein wahres Wunder der Technik. Mit einem kleinen Laser schneidet er sich durch das bereits verklumpte Blut an seinem Bein und löst die Wunden in die erforderlichen Nerven- und Muskelkanäle auf. Dann bringt er seinen neuen Stand an und verbindet die künstliche Haut mit einem gerinnungsähnlichen Kleber. Dieser wird sich über die nächsten Tage mit seinem Körper verbinden und das Bein so dauerhaft an ihn heften. So muss er die Prothese nicht abnehmen, wie es noch vor einigen Jahrzehnten nötig war. Als er mit seinem Bein fertig war, bat er das System um eine Justierung seines Arms, da er die Prothese nicht mehr lange halten konnte. Als Nebenwirkung der Infusion hatte er leider nur wenige Stunden Zeit, bis ihn ein Schwächeanfall überkam. Seinen Arm hatte er aber noch bewältigen können, sodass der Flicken-Commander nun mit noch schlaffen, neuen Prothese auf der Kryokammer sitzt. Die Biomechanik sollte erst in ein paar Stunden wirklich aktiv werden. So viel Zeit hat er aber nicht. Eher müsste er sein Bein wie eine Krücke vor sich her werfen, bis es dann für ihn laufen kann. Er stützt sich von der Kammer runter und steht das erste Mal seit seinem Absturz wieder auf zwei Beinen – zumindest das funktioniert also sehr gut! „Operation abgeschlossen, Computer bring mich zu den Raumanzügen.“
Commander Freud würde lieber noch etwas Energie sparen und diese in die Heilung seiner Eingriffe investieren, statt in unnötiges Humpelgestottere. Solange die Awakening noch etwas Energie hatte, würde er die Arme die letzten Stunden hier noch nutzen. Hätte er das andere Shuttle gehabt, wäre es nur nie zu einer Operation gekommen.

Wieder kreist der Gedanke in ihm, warum sich der Computer nur für die Awakening entschieden hatte. Die KI müsste intelligent genug sein, um solche Berechnungen zu verstehen und entsprechend pro Menschenleben zu lösen; das andere Shuttle ist deutlich kostbarer, multifunktional und hätte von der Sleeper gerettet werden müssen. Das System musste also schwer beschädigt sein. Henry befürchtet, dass auch die mobile Version der KI ihm nicht gut weiterhelfen würde, wenn er ein System auf einem fahrenden Datenträger mit zur Europa-Wanderung nimmt. Schließlich müsste er nach der Operation das Shuttle verlassen und das einzige zu Ende bringen, was ihm nun noch bleibt; seine Mission, DNS-Spuren zu identifizieren und das Leben auf Europa zu erkunden.
So ein fahrender Datenträger sieht aus wie eine kleine, gepanzerte Brotbox. Sie ist dafür da, das System an ihm zu halten, da es nicht in seinen Raumanzug integriert werden kann. Anzug und Bordcomputer sind aber über Kurzstreckenfunk verbunden, die Maschine muss also in seiner Nähe bleiben. Damit ein Astronaut nicht zu viel Sauerstoff verbraucht, ist seine Schutzkleidung möglichst „lightweighted“, also gewichtsarm, damit mehr Sauerstoffreserven statt Technik den Europa-Pionier versorgt. Gewichtsarm ist da jedoch eher ironisch zu verstehen; der Sauerstoff ist extrem verdichtet und in mehrere Kammern verteilt, damit Henry ein paar Wochen problem los durchhält. Der Anzug selbst wiegt mindestens 40 Kilo. Sicherlich hätte man dieses Problem der Balance von Sauerstoff und Funktionen auch mit genügend Vorbereitung lösen können, aber die Sleeper-Mission war eben eine gigantische Improvisationsgeschichte. Eine äußerst stressige dazu. Nie hat es so wenig Vorbereitungszeit gegeben, um ein solches Mammutprojekt zu stützen, Mega-Bauten auf einem anderen Planeten fertig zu stellen. Durch die mangelnde Zeit schätzt das Financial Department der ELFA die zusätzlichen Kosten in unvorstellbare Milliardenhöhen. Ausgeschrieben bedeutet der Akronym der Institution Europa Life Form Administration. Strenggenommen handelt es sich um ein autonomes Raumfahrtprogramm, welches in Kanada von mehreren internationalen Wissenschaftsverbänden gegründet wurde. Schnell gehörte es dann der CSA an, also der Canadian Space Agency. Die ersten speziell für den Eismond Europa entwickelten Instrumente und Anzüge wurden dann in der Arktis und in Grönland getestet. Über die Jahre, kann man aber so sagen, verschmolz das Unternehmen auch mit der NASA. Dafür gab es viele Gründe, die meisten waren politisch. Das Interesse an Europa wuchs zunehmend, die Regierungen sahen einen Subventionsvorteil, wenn man sich verbündet. Für den Bau des Schiffes auf Mars hätte man ohnehin die NASA involvieren müssen und bereits zu Gründung waren ständig Gesandte und Wissenschaftler der US-amerikanischen Raumfahrtbehörde in Kanada zu Gange. Mit dem Einverleiben der ELFA hatte diese nur theoretische Unabhängigkeit. Deswegen wurde der US-Commander Henry Freud direkt aus seinem Militärposten auserkoren. Erst sprach man von einem internationalen Team, aber die US-Regierung machte einen solchen Druck, um die Erkundung auf ihre Fahne zu schreiben, dass nur noch Henry in der Auswahl übrig blieb. Damit verbindet er jedoch wenig Nationalstolz. Seit die großen Dürren über sein Land herzogen und sein gesamtes Team seit Jahren in Kanada stationiert waren, für das Projekt, hatten die meisten Landsleute den Bezug zu den USA verloren. Nicht dieses eine Land bräuchte den Hoffnungsschimmer Europa, sondern die Welt würde gerne ihre Gesichter auf dem Jupitermond sehen. Ein internationales Team wäre einfach nur logisch für diese ganze Fassade, aber aus technischer Sicht hätte das mindestens 15 Jahre mehr Planung benötigt, damit alles sicher für etwa 8 Mann wäre.

Als Henry auf die verbogenen Türen mit den Anzügen zugeschoben wird, sieht er von außen auf der Kammer viele Filzstiftmarkierungen von den Wissenschaftlern. Sie haben an das Metall Begriffe wie „Hope“ und „Hopebringer“ geschrieben. Henry wurde immer schlechter, wenn er an die Tragweite seiner Mission dachte. In den Medien wurde die neue Europa-Mission als Bestätigungsversuch für Leben im All bezeichnet. Damit sollte konservativen Zweiflern, aber auch begeisterungsfähigen Wissenschaftstalenten angeblich ein neuer Fokus geschenkt werden. In Wirklichkeit aber, das war nun kein Geheimnis, ging es darum, Leben erstmalig zu bestätigen und daraufhin eine absolute Finanzierung in die Erforschung von habitablen Exoplaneten zu setzen. Kurzum: Die Menschheit sucht nach einem neuen Heimatplaneten und braucht valide Daten über mögliche, wasserbasierte Lebensformen. Es muss klar sein, dass andere Gravitationsflächen, andere atmosphärische Zusammensetzungen und fremde Horizonte sich nicht zu negativ auf die Physiologie und Psychologie von All-Kolonialisten auswirken würde. Zu Beginn des 21ten Jahrhundert träumte man einfach davon, auf dem Mars zu spazieren und dort erdähnliche Städte unter Kuppel zu sortieren. Aber schnell wurde klar, dass die Strahlung und der Staub Probleme bei jedem Schritt machen würden. Außerdem leiden viele Astronauten unter bestimmten psychischen Phänomenen, wenn sie zu lange auf dem Mars arbeiten. Trotzdem hat man sich im Sinne des Expansionsdrangs, dafür entschieden, eine Kolonie zu errichten, um Raumschiffe zu bauen. Derzeit, also seit Commander Freud in der Sleeper kryokonserviert vegetierte, wird bereits ein gigantisches Schiff gebaut, in dem einige Tausende Menschen zu einem potenziellen Exoplaneten transportiert werden soll. So werden wenige Eliten dem Klimawandel entfliehen, Katastrophen, die sie selbst ausgelöst haben. Henry ist sich da aber immer sicher gewesen, dass es andere Möglichkeiten geben könnte, wie die Erde sich regeneriert. Wenn man das Problem mit dem Mars lösen könnte, vielleicht würde es dann auch reichen, die Ressourcen zunächst in eine vollständige Umsiedlung auf diesen näheren Planeten durchzubringen und einige Generationen zu warten, bis die Erde sich etwas erholt hat. Der Mars selbst ist zwar ein Negativbeispiel dafür, wie ein Planet stirbt, aber an diesem Punkt wäre die Erde noch nicht. So wie er diese Eliten jedoch kennengelernt hat, die durch ihre Finanzierungen häufig Zutritt zu den kanadischen Stationen hatten, dann ginge es ihnen vor allem um Prestige. Was Prestige damit zu tun hat? Nun, es geht ihnen nicht um eine pragmatische, sogar kosteneffizientere Lösung, sondern darum, das zu erreichen, was niemand zuvor gewagt hat; die Besiedlung eines fremden, weit entfernten Sonnensystems. Ob aber Henrys Idee mit dem Mars jemals aufgehen würde, kann er nicht beurteilen, dazu fehlen ihm die wissenschaftlichen Einblicke. Derzeit vermutet die gesamte Szene, dass die psychischen Probleme durch den Marsorbit zur Sonne verursacht werden. Da der Mars weiter als die menschliche Heimat die Sonne umkreist, könnte sich dieser Unterschied irgendwie in das Gehirn der Marsarbeiter schleichen. Mittlerweile ist jedoch zu viel Geld in die Besiedlung und die Raum-Werften geflossen, als dass irgendein Beamter sich öffentlich für die Gesundheit der Marsbevölkerung aussprechen würde.

Obwohl Freud die Speerspitze menschlicher Hoffnung ist, zumindest als solche verkauft wurde, hat er überhaupt keinen Einfluss und keinen Kontakt zu diesen entscheidenden Offiziellen. Auch niemand der Wissenschaftler kann diese Obrigkeiten beraten, da sie sich recht resistent in ihren Expansionsplänen zeigen. Henry hat nur an dieser Mission teilgenommen, weil ihm versprochen wurde, dass seine Frau dann kostenlos, unter gleicher Behandlung wie die anderen Elitären, mit in ein neues Projekt eingeschlossen würde. Es wurde nie ausgesprochen, dass ein kleiner Teil der Menschheit eine Dystopie auf Erden zurücklassen würde, aber alle wussten, um die Pläne. Also wurde ein sehr schwammig formulierter, aber klar andeutender Vertrag mit Henry geschlossen. Für ihn ist klar, das er nur so seine Frau und sein Leben beschützen könnte, aber er schämt sich dafür, all die Zivilisten in die Dürre zu verbannen und mit seiner Mission den gesamten Prozess zu katalysieren.

„Möchten Sie Ihren Dienst für die Menschheit antreten, Commander Freud?“ Henry hätte in seiner Gedankenschwelgerei und seinen Gewissenskonflikten fast vergessen, dass das System mit seinen mechanischen Armen ihn vor der Tür mit den Anzügen aufrecht hält, „Nein Computer, bitte warte einen Moment und sammle alle verfügbaren Daten über die Absturzstelle und zeige mir an, wo ich mich genau mit der Awakening derzeit befinde auf Europa.“ Bei der Frage um seinen Dienst für die Menschheit wurde ihm wieder sehr schlecht. Henry muss sich sein Gewissen verkneifen, um seinen Dienst zu Ende zu bringen. Bloß als pionierer Held für die USA zu sterben, ohne Daten an die Menschheit zu bringen, würde überhaupt nichts bewirken. Wenn der Elitenflug die einzige, festgefahrene Alternative zur Rettung der Menschheit sein würde, dann müsste er diese eben bedingungslos unterstützen. Er kann nichts gegen diese Entscheidung ausrichten, aber er alleine hat die Fähigkeiten und die Ausbildung, auf Europa zu überleben. Niemand sonst ist auf die Realität des Eismondes so gut vorbereitet wie er, also ist es seine Pflicht sich diesen stoischen Schicksals hinzugeben – so denkt der Commander, gebannt vor den Türen der Raumanzüge. Wie ein Kleinkind wird er von den Armen aufrecht erhalten und starrt leer in das Portal seiner Reise; sobald er den Raumanzug trägt, wird es für ihn losgehen, so viel ist klar. Danach gibt es kein Zurück mehr. Seine Zweifel legt er behutsam mit seinem Gewissen irgendwo in sein Unterbewusstsein ab, er ist vollfokussiert. Immer wieder ruft er sich seine Missionsdetails zurück in sein Gedächtnis. Er bereitet sich nun genau auf das vor, wozu er ursprünglich unterrichtet wurde. Kurz blickt er aus dem kuppeligen Dachfenster über ihm heraus. Jupiter war dort groß zu sehen. Ein Anblick, den sonst kein Mensch zuvor erfühlen durfte und gerade Henry stand nun hier und hat den Absturz auf Europa wie durch ein Wunder überlebt. Commander Freud schmunzelt, als er an die Bedeutung der Jupiter-Gottheit denken musste, nach der der Gasriese benannt wurde. Ein kleiner Adler, sein Shuttle, stürzt im Donnerflug auf Europa ab. Henrys Blick führt zurück zu den Türen. „Computer bitte hilf mir, in einen Anzug zu steigen.“ Das mechanische System fährt weitere kleine Arme aus, die um Henry wuseln und sich schließlich alle gleichzeitig auf bestimmte Stellen an seinem Körper ausrichten. Das System schießt kleine Lichtstrahlen, Entfernungsmesser an seinen Kopf, Torso und seinen Unterkörper und ermittelt, wie der Prozess zum Anziehen ablaufen müsste. „System!“, Henry erstillt für einen Moment. „Commander Freud tätigen Sie bitte eine Eingabe.“ Henry überlegt kurz, „Bitte spiele ein letztes Mal Dvořáks Serenade for Strings, E-Dur!“ Das würde sich Henry nicht entgehen lassen, zum letzten Mal etwas Musik zu hören. Seine Lieblingslieder hat er zuvor in das System einschleusen können. Es sollte eigentlich dazu dienen, dass der Computer ihn beruhigt, falls er zu früh aufwachen würde – eine psychologische Maßnahme also, gut durchdacht. Die Musik erschallt und das System fährt fort, den Anzug wie Einweghandschuhe aus den Doppeltüren zu ziehen. Kleine Metallarme bewegen sich im Takt des Streichorchesters und straffen ruckartig den Anzug auf. Das System begutachtet mit einer winzigen Infrarot-Kamera rundum den Anzug und fährt nach erfolgreicher Prüfung zu Commander Freud. Der Mann gibt sich den mechanischen Armen und der Musik vollkommen hin, genießt diese letzten Momente Ruhe, nach all dem Chaos. Dvořák brachte etwas Ordnung in seinen Nahtod auf Europa. Schon auf der Erde hatte seine Frau dieses Stück immer abgespielt, wenn er nervös war. Egal wo sie gerade waren, ob es kurz vor einer Missionsbesprechung in einer Toilette war oder im Auto. Francesca Freud wusste, wie sie ihren Commander beruhigt. Henry bemerkt nicht, dass er den Anzug schon fast vollständig am Körper hat und auch die Musik wird immer zarter. Um seinen Hals spürt er den engen Kragen, wie den seiner Uniform. Francesca hatte immer dieser markante Bewegung, seinen Kragen zurecht zu rücken. „System, bitte richte meinen Kragen.“ Natürlich kam es ihm etwas komisch vor, aber er möchte es nicht vermissen, diesen Tag ohne seine Rituale zu beginnen. Vor allem, wenn es vorerst der letzte Tag sein würde, den er so beginnt, oder überhaupt seine letzte Zeit im Leben. Alles war so ungewiss für ihn, darum hält er einfach an den Dingen und Ritualen fest, die ihm Geborgenheit bringen – zumindest für einen Moment. Ein kleiner Arm fährt an seinen Hals und führt die gewünschte Geste aus. Der Anzug scheint optimal zu passen und Dvořák verlässt den Raum. Commander Freud ist nun vollmontiert und bereit, Europa den Marsch anzusagen. Leicht schwankend, aber aufrecht, bewegt er sich zu seinem Kryosarg, um sich darauf zu stellen. Von dort könnte er die obere Sichtluke als Notausgang verwenden. Er steigt auf die Konstruktion und beginnt, seinen neuen Arm zu einem Sicherungshebel zu bewegen. Als er nun mit beiden Armen und festem Stand an dem Hebel krallt, knautscht das Material seiner Handschuhe. Er hatte dieses Geräusch vermisst; es ist ihm in den letzten Jahren während seinen Missionen in der Arktis sehr bewusst geworden. Henry unterbricht seine Flucht aus der Awakening, als ihm auffällt, dass sich die mobilen Datenträger in der Dekompressionskammer befinden. Da er nun mit wochenlang ausreichendem Sauerstoff in seinem schweren Anzug bepackt ist, ist es kein Problem, diesen kurzen Gang in die Kammer zu nehmen. Ihm bangt es eher davor, weitere 20 oder 30 Kilogramm Datenträgergewicht nach draußen zu tragen, da seine 40 Kilo Anzug sich bereits bei seinen Wunden bemerkbar machen. Eigentlich soll man sich nach so einer Operation möglichst lange hinlegen, damit die Wunden nicht doch reißen. Eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit, aber dennoch möglich. So viel Zeit hat Henry nicht, die Awakening könnte trotz der merkwürdigen Eiszapfen durch die Mondeiskruste einbrechen und in Europas Ozeane verschwinden. Freud springt vom Tisch und lässt seinen Körper sanft aufkommen. Die Gravitation auf Europa ist etwa 7,5 mal niedriger als auf der Erde. Das ist dem Commander bisher noch nicht wirklich aufgefallen, da er sich mit seinem kryostatisch verschlafenen und blutarmen Körper noch gar nicht richtig erholen konnte. Wäre er auf der Erde, könnte er sich vermutlich gar nicht richtig bewegen. Als Henry sich auf die Dekompressionskammer zu bewegen will, vernimmt er aus einem Augenwinkel das Leuchten mehrerer Anzeigen. Die eine ist besonders wichtig, sie blinkt schnell rot; eine penetrante Frequenz. Doch Henry stürmt zur großen Armatur – jemand hätte eine Nachricht an ihn geschickt! Von der Erde oder vom Mars? Die Nachrichten bräuchten etwa 12 Stunden, um anzukommen! Vielleicht hätte auch die Sleeper eine automatische Zustandsmeldung veranlasst und das System würde sich selbst noch reparieren können? Commander Freud drückt auf den Knopf und ein Bildschirm wird auf eine Glasfläche projiziert, auf der nun die letzten Nachrichten angezeigt sind. Sie stammen tatsächlich von der Sleeper. „Bordcomputer, sortiere die Nachrichten und nenne mir Metadaten und Inhalt.“ Vielleicht gäbe es für Henry noch eine Möglichkeit, von diesem Mond zu kommen.

Alexandra Svenja Meyer ist Der Schnabel hinter Projekt & Poesieblog Schwarzer Flamingo und tritt bei Literarités und Poetry Slams auf, um poetische Performance zu nutzen und Menschen mit abstrakter, rästelhafter Poesie vertraut zu machen. Aufgrund ihrer dekonstruktivistischen und hermeneutischen Intentionen, welche sie hinter den rekursiv eingedeuteten Motiven auswachsender Pflanzen und formbehandeltem oder brechendem Glas einfasst, welche jene Motive sich im Ausfächern der Verständnisebenen eines Textes dynamisch verflechten, ist Alexandra auch als ‚Glasvasenpoetin‘ bekannt. Neben ihrer Tätigkeit als Autorin und der Passion für moderne Poesie ist Alexandra als Cannabis-Patientin und Aktivistin für eine Entstigmatisierung von medizinischem Cannabis und dessen Patient:innen aktiv als Cannabis-Expertin auf Twitter. Für ihr Engagement und die kritische Aufbereitung von Cannabis-Studien wurde sie als Rednerin bei Cannabis-Veranstaltungen eingeladen und ist darüber hinaus politisch aktiv. Ihrem poetischen Schaffen widmet sie, nach eigenen Aussagen, das oben erwähnte Pflanzenmotiv unter der Inspirationsfahne von Cannabis in der Kunst. Aufgrund ihrer Erkrankung sei die Pflanze eine starke Stütze, durch die sie konzentriert in die begrifflichen Spiegelwelten aus gläserner Schreiberei eintauchen könne und von dort aus den Halm bis zur Knospe ihrer Inspiration erklimmt.
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