Der Unknall: Das Boot

Bei diesem Text handelt es sich um eine exklusiv auf diesem Blog erschienene Geschichte, die sich dem Universum des Kurzromans „Der Unknall“ angliedert.

Seit nunmehr Tagen wandert der Bärtige durch diese von wärmenden Oasen verlassene Eiswüste. Bisher ward ihm keine einzige Insel zu Gesicht und sein Schritt spannt in Gedanken an den Erfrierungstod an. Die Leuchtfeuerwaffe, eng um sein Knie gebunden, stützt das schwergefrorene Gelenk, bietet ihm zumindest im Glauben ein wenig Sicherheit und lässt sein schmerzverzerrtes Humpeln mit einem erlösenden Ausfallabstützen schwanken. Die abgewetzten Knobelbecher, seine Soldatenstiefel, poltern förmlich über die dünne Eisschicht, auf der er zu wanken glaubt – vielleicht befindet sich auch nichts Flüssiges unter seinem fetzenbesohlten Dasein außer einer eisigen Starre, die tief in die sonnenungeküsste Unterwelt dieser sturmverforerenen, weißblendenden Ewigkeit.

Zwischen den frostzotteligen, schwerverfilzten Haaren blitzen zitternde Pupillen zum Helmsaum hinauf, an dem einige Eiszapfen auf die Augen des Wanderers zielen; sie mussten in der ständig wechselnden Sturmrichtung gewachsen sein und ranken nun spiralförmig direkt in das Gesicht des Bärtigen, um sich dort mit den eisverkrusteten Tränenschlingen in seinen Falten zu verbünden. Auch kreiseln die vielen weißsäulenden Stürme um ihn herum, sodass er beinahe die dunklen Umrisse eines länglichen Objekts in der Ferne nicht erkannt hätte, wie diese schwarzbrennend, doch schleierhaft sich durch die auf dem glatten Eismeer füßelnden Sturmspitzen in das Sichtfeld des Soldaten fressen.

Unberührtes Eis ebnet seinem fast zu einem leichten Rennen angezogenen Humpeln den Weg und mit einem von Frost schwerbeladenen Sprung hechtet der Wanderer auf etwas zu, das ihm wie ein altes Angelboot erscheint. Die klassische Holzform schwappt seicht in einer kleinen Aussparung im Eis, die zu vermuten gibt, dass wohl doch etwas mehr Wasser unter dem tragfähigen Eisfilm der unendlich ausgebreiteten Weißfläche schlummern könnte. An den Rändern des Frostümpels deutet der Wanderer jedoch eine tiefe Eiswand, die unmessbar wie ein Rohr in den Untergrund führt – als hätte jemand ein Loch in die ozeanische Platte geschossen und es mit Wasser aufgefüllt anstatt die Stelle aufzuschmelzen. Säuberlich gebrochen zeichnet ein kleiner Riss am Rumpf des Bootes sich ausbreitend an, an dieser Stelle scheint das schwarzbraune Holz immer wieder anzuebben.

Um den Spalt nicht auszuufern, tappt der Wanderer, sich fragend durch den solide gefrorenen Bart bürstend, näher an das Vordeck. Als er sich, um in das Boot zu blicken, auf das Holz abstützt, sinkt die schwarze Schale deutlich ab und hinterlässt ein lautes Knacken im Eis, das dem Soldaten ungeheuer wie ein Echo durch den Kopf schwimmt. Erschrocken weicht dieser zurück und beobachtet hastig den Riss, der sich vom Rumpf aus in abruptem, unbestimmbar kurzen Abständen und Richtungen weiter ausbreitet. Nach einem geeigneten Fluchtweg ausschauend, verlässt der Wanderer die gefährliche Verlockung lieber, schließlich befindet sich sowieso nichts in dem seelen- und vorratslosen Holzsarg.

Der Riss schreit laut und weitere kleine Spalte brechen wie Finger auf seinem Pfad auf. Als würde dieser den Wanderer erspähen, dreht ein großer Auswuchs des schluchtend aufbrechenden Ungetüms auf die humpelnden Knobelbrecher zu. Zwei tektonischen Platten gleich, entzweit ein gigantisches Gefälle direkt hinter dem Fliehenden in alle Richtungen, der panisch zur Sicherheit nach seiner Leuchtfeuerwaffe greift, sich fest um sein Knie klammert und es wie eine Krücke mit jedem Schritt voran schmeißt, um sein Fluchttempo zu halten.

Der Unknall: Das Boot - Der Wanderer auf der Flucht vor dem Eisriss

Eisbeißende Flocken stürmen in die Sicht des Sturzhumpelstotternden und beginnen im aufkommenden Rotton des Sonnenlichts in eine umhallende Nebelschicht zu verdampfen. Dem Fliehenden kommt es so vor, dass er nicht nur von wenigen Flocken, sondern einem Nebelsturm umschlossen wird. Traumhaft schaurige Landschaft formt sich aus den schleiernden Kontrasten in seinen müden Augenwinkeln aus. Weit greifende Berge verrenken sich aus dem Eisgrund, der kaum noch sichtbar, von einem endlos tiefen Nebelfilm überkrochen wird. Eine Faust gigantischen Ausmaßes wischt durch den Dampfvorhang und prügelt sich fast schon panisch durch den Bund Regen, welcher der Eiseskälte trotzt und nachtschwarz vom Himmel herab vom Wind, wie in Stufen getragen, in Richtung des Wanderers steigt. Des Regens Flug und Lauf wird anscheinend neben dem Wind auch von der Kraft einer unmöglich schwarzen Wolke getragen. Wenn doch die meiste Landschaft nun Rast nimmt und in einem seichten Rot der gepressten Sonne geküsst wird, bleibt die silbrig funkelnde schwarze Wolke unberührt. In tiefster Ferne meint das geplagte Gesicht des Verschrockenen mindestens eintausend Vögel pro Daumenbreite auszumachen, die er nun samt seiner vermessenden Hand zum Himmel richtet.

Auch die Berge um ihn herum entkleiden sich ihres tiefen Schwarzes und beginnen, ihre Vogelschwarmgestalt zu enthüllen, mit der sie nun den Wanderer zu umkreisen beginnen. Schwarzer Regenteppich gießt sich unter Knobelbechern aus und bietet Weg hinauf an der fuchtelnden Figur vorbei, die kolossal und mit schmerzverzerrten, ständig formwechselnden Auswüchsen auf der Brust in Richtung des kleinen Mannes dreht; er meint dort unter anderem ein bestialisches Gesicht, gleich einer Raubkatze auf der Brust der waldüberwachsenen und steinbröckelnden Kreatur zu sehen. Der Kopf des Gigants jedoch bleibt umhüllt in ewiger Nachtschwarmwolke. Bis zu den Schultern wandelt die im Nebeleis donnernde Figur durch die Wolkenmasse, sodass jedes Geschrei und jeder Auswurf kopflos verschluckt bliebe, ohne den Wanderer von dem vielen Federpeitschen und rauschenden Vogelgekreische abzulenken. Wie ein Sturm umdreht die Wolke nun Koloss und Wanderer und ein rotglühender Kern bildet sich aus den Lichtstrahlen, die es schaffen, das Vogelschwarz zu durchdringen.

Steine im Himmel hängen an relativ dünnen, aber starken Wurzelgeflechten von den Oberarmen und Schultern herab, auf denen ganze Wälder emporzuschießen scheinen. Würde sich das Geschöpf hinlegen und sähe es in seiner kämpferischen Haltung nicht so bedrohlich aus, würde es vermutlich einen hervorragenden Schutz vor dem Eissturm bieten. Anhand des dumpfen Donnerns der aneinanderschlagenden, hängenden Felsbrocken wird dem Wanderer die Größe des Giganten zunehmend bewusst. Als hätte dieser den Gedankengang erhört, beugt sich die landschaftende Kreatur wolkenreißerisch über den kleinen Mann und ein Hauch des verworrenen Gesichts blitzt für einen Bruchteil durch die Schwarmdecke – nicht jedoch genug, damit der geschockt Angewurzelte eine menschliche Fremde oder Vertrautheit hätte deuten können; das Gesicht wie auch der Körper scheinen keinem menschlichen Abbild zu gleichen.

Im ersten Versuch steigen die Knobelbecher auf den Regenpfad, verlieren jedoch schnell an Halt, da die Regenleinen wie Saiten eines Instruments auseinanderbiegen und des Wanderers Balance-Akt direkt in einem sich endlos ankündigenden Fall ersticken. Die Vogelbilder verschwinden im fernkriechenden Nebel, der wieder Sicht zur eisozeanischen Weite aufklärt. Der Kopf des Wanderers fällt hinab in einen Schlund, sein Körper aber klebt wie gebannt mit den Händen abgestützt auf dem restlichen Holz, dass von dem Boot noch zurückgeblieben scheint. Er scheint aus einem Wahn erwacht zu sein und mustert nun den endlos tiefen Fall des Boots, wie es in dem verfolgerischen Riss zersplitternd abgetaucht ist. Schnell müsste er wieder aufstehen, da ihn sonst ein ähnliches Schicksal ereilen würde. Doch mit letztem raschen Blick fängt der Wanderer einen furchtvollen Eindruck des Rissbodens, an dem er sich aufgrund der Düsternis tausende ineinander wabernde Hände vorzustellen glaubt.

Alexandra Svenja Meyer ist Der Schnabel hinter Projekt & Poesieblog Schwarzer Flamingo und tritt bei Literarités und Poetry Slams auf, um poetische Performance zu nutzen und Menschen mit abstrakter, rästelhafter Poesie vertraut zu machen. Aufgrund ihrer dekonstruktivistischen und hermeneutischen Intentionen, welche sie hinter den rekursiv eingedeuteten Motiven auswachsender Pflanzen und formbehandeltem oder brechendem Glas einfasst, welche jene Motive sich im Ausfächern der Verständnisebenen eines Textes dynamisch verflechten, ist Alexandra auch als ‚Glasvasenpoetin‘ bekannt. Neben ihrer Tätigkeit als Autorin und der Passion für moderne Poesie ist Alexandra als Cannabis-Patientin und Aktivistin für eine Entstigmatisierung von medizinischem Cannabis und dessen Patient:innen aktiv als Cannabis-Expertin auf Twitter. Für ihr Engagement und die kritische Aufbereitung von Cannabis-Studien wurde sie als Rednerin bei Cannabis-Veranstaltungen eingeladen und ist darüber hinaus politisch aktiv. Ihrem poetischen Schaffen widmet sie, nach eigenen Aussagen, das oben erwähnte Pflanzenmotiv unter der Inspirationsfahne von Cannabis in der Kunst. Aufgrund ihrer Erkrankung sei die Pflanze eine starke Stütze, durch die sie konzentriert in die begrifflichen Spiegelwelten aus gläserner Schreiberei eintauchen könne und von dort aus den Halm bis zur Knospe ihrer Inspiration erklimmt.
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2 Gedanken zu „Der Unknall: Das Boot
  1. Alexandra, dein Buch hat mir wirklich gut gefallen! Und die Geschjchte hier macht das ganze Rätsel – wie von dir beschrieben – noch interessanter. Icj weiß nicjt, wie viel ich hier spoilern darf, deswegen lasse ich meine Deutungen mal lieber aus oder wenn du magst schicke ich dir eine Mail dazu

    Lg
    Otto

    1. Lieber Otto,

      vielen Dank für eine lieben Worte, wenn dir das Buch gefallen hat, hinterlasse doch gerne eine Bewertung auf der Produktseite. Und es freut mich unglaublich, dass du so einen Zugang zu dem Buch gefunden hast, sende mir deine Interpretationen doch gerne per Kontakt zu, wenn du dich direkt mit mir darüber austauschen möchtest, grundsätzlich finde ich es jedoch spannend, wenn sich die Community hier über die Kommentarfunktion austauscht und sich direkt mit den Gedanken des Autoren und seiner Stille Persönlichkeit vernetzt. So oder so freue ich mich auf Input!

      Mögen die schwarzen Schwingen mit dir sein!
      Deine Alexandra Svenja Meyer

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