Frieden

Wissen Sie, mit dem Alter setzt man sich viel zu schnell eine Brille auf, mit der man glaubt, die Weisheiten des Lebens erlesen zu können, doch oft wird man dabei blinder als man es ersehen könnte. Als junger Mann tat sich mir im Nachthimmel ein Universum auf, dann hängte ich ihn mir als Bild über meinem Horizont und jetzt als Greis? Wenn ich nun in die Nacht starre, bringt mir das Leben eine kleine Andachtskarte mit, auf der sich jeder noch so kleine Stern erkennt. Selbst mit meiner Brille finde ich sie nicht mehr alle, aber ich weiß, wo sie ihren Platz fänden.

Schwarzer Flamingo Frieden Sternenturm

In den Nächten meiner Jugend brachen viele neue Sterne in den Himmel ein; Türme mit unzähligen Lichtern schoben sich vor das Firmament und in den großen Städten schmückte sich die Nacht wie Tag. Während dieser Zeit versteckte auch ich mich in solchen Türmen, in der Hoffnung selbst als Stern zu strahlen. Doch in der völligen Dunkelheit meines Lebens verlor ich mich in einem All, das mir mit den Jahren immer enger um die Kehle schnürte. In jeder Nacht ertrank ich in einem Ozean aus Tränen, der mich an den Rand des Wahnsinns spülte. Drum setzte ich mir in den Kopf, aus den kleinen Welten, die noch in meinem All schwirrten, Sonnen zu machen; Meinen Sohn zwang ich zum Studieren, meine Tochter sollte sich vermählen und meine Frau beschenkte ich mit Weltreisen.

Schwarzer Flamingo Frieden Tränenall

Je intensiver ich sie zum Strahlen brachte, desto schneller brannten sie aus; Mein Sohn zog weg, meine Tochter sprach nicht mehr mit mir und meine Frau lernte einen neuen Mann im Ausland kennen. Sie konnten es wohl nicht ertragen, dass ich versuchte, sie in mein All zu verbannen, damit sie still um mich kreisen. Damals ward es mir nicht klar, dass es nie die Sonnen sind, die sich um einen drehen, denn ich zog mir meine Brille falsch herum auf. Mit einer Lupe also kroch ich durch mein All und suchte nach immer kleineren Welten. Jedes Mal, wenn ich fand, ihnen sollte eine Sonne entspringen, erkannte ich nur einen dunklen Fleck; Ich sah sie einfach nicht mehr, denn in meinen Vorstellungen strahlten sie immer schon viel heller, als sie es jemals würden.

 

Alles was ich nicht sehen wollte, übermalte ich mit einem blinden Strich, bis sich völlige Dunkelheit bildete. In dieser Zeit sah ich nicht einmal das Nachtleben der Stadt, dass mich zuvor mit seinen strahlend lauten Fassaden begrüßte. Selbst mein All verschwand und ich verlor mich in einem kleinen Raum. Nun sitze ich hier, sehe dieser kleinen Andachtskarte nach, die hin und wieder eine meiner Tränen fing, und strahle. Denn verstehen sie mich nicht falsch. So trostlos mein Leben zu scheinen mag, meine Vergangenheit grenzt um meinen Raum. Mit jedem Jahr schrumpfte mein All, doch zeitgleich wuchs ich. Jetzt passt gerade so ein kleiner Garten in das Zimmer, in dem ich meine Lieben kultiviere und dafür muss ich keine weiten Strecken mehr auf mich nehmen. In einem kleinen Raum kann ich mir alles so zurechtlegen, dass ich nicht einmal aufstehen muss, um meinen Frieden zu finden.

Alexandra Svenja Meyer ist Der Schnabel hinter Projekt & Poesieblog Schwarzer Flamingo und tritt bei Literarités und Poetry Slams auf, um poetische Performance zu nutzen und Menschen mit abstrakter, rästelhafter Poesie vertraut zu machen. Aufgrund ihrer dekonstruktivistischen und hermeneutischen Intentionen, welche sie hinter den rekursiv eingedeuteten Motiven auswachsender Pflanzen und formbehandeltem oder brechendem Glas einfasst, welche jene Motive sich im Ausfächern der Verständnisebenen eines Textes dynamisch verflechten, ist Alexandra auch als ‚Glasvasenpoetin‘ bekannt. Neben ihrer Tätigkeit als Autorin und der Passion für moderne Poesie ist Alexandra als Cannabis-Patientin und Aktivistin für eine Entstigmatisierung von medizinischem Cannabis und dessen Patient:innen aktiv als Cannabis-Expertin auf Twitter. Für ihr Engagement und die kritische Aufbereitung von Cannabis-Studien wurde sie als Rednerin bei Cannabis-Veranstaltungen eingeladen und ist darüber hinaus politisch aktiv. Ihrem poetischen Schaffen widmet sie, nach eigenen Aussagen, das oben erwähnte Pflanzenmotiv unter der Inspirationsfahne von Cannabis in der Kunst. Aufgrund ihrer Erkrankung sei die Pflanze eine starke Stütze, durch die sie konzentriert in die begrifflichen Spiegelwelten aus gläserner Schreiberei eintauchen könne und von dort aus den Halm bis zur Knospe ihrer Inspiration erklimmt.
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