Die sterbenden Sorgen
Als ich in den Bahnhofshallen zwischen Menschenmengen und Straßensmog zu aufatmen versuchte, reisten die zurückliegenden fünf Jahre Auslandseinsatz schon in dieser Minute mit dem dichten Dampf des Zuges ab, der mich direkt vor der großen, alles überblickenden Bahnhofsuhr absetzte. Schweren Gepäcks zwängte ich mich noch ein wenig zögernd an mal lachenden, mal fluchenden Passanten vorbei, immer die Zeit im Blick, die von den unaufhaltbar paukenden Zeigern ebenso in die anderen aufblickenden Passanten tropfte; Es schlug sechs und erlöste Blicke flossen von der Stirn zur Kehle des kurzfristig, aber lautstark rastenden Ziffernblattmetronoms. Ich schmunzelte, in all den 6 Jahren Krieg hatte ich fast vergessen, wie friedvoll sich diese eine Minute auf dem kreisrunden Gemälde zeichnete; Wenn der kleine Zeiger eine Auszeit von seinem Pendeln bekam und das Paar erkannte, wie gleich es sich doch ist, obwohl sie weiter nicht auseinander liegen konnten und der große den kleinen Bruder sonst stündlich überholte.
Hast hatte ich selbst keine, denn auch wenn mir von meiner Reise nicht viel geblieben sein mochte, brachte ich alle Zeit der Welt mit, um nun dem beschwerlichsten aller Wege zu folgen: Wenn man sich so lange vor der Heimat versteckt, wie ich es vorsah, wenn man so lange im Krieg isoliert, wie es meine Stiefel mir im Bombenschlamm bequemten, bangt man darum, die Geschehnisse der Heimat mochten einen stündlich überrannt haben.
Vor dem Bahnhofstor wartete ein Chauffeur auf meine leuchtende Uniform, winkte mir mit ausgestreckten Armen zu. Unter all den anderen Soldaten konnte er mich wohl nur anhand meiner Abzeichen erkennen. Er sattelte mein Gepäck auf und fuhr, mich nach meiner Reise und dem Ausland ausfragend, zu den schmalen Straßen meines Familienviertels. Die Gassen waren zu eng für den Dienstwagen. Von dort aus musste ich den restlichen Weg durch die verregneten Gassen laufen, das Gepäck auf einem kleinen Rollbrett gestapelt, welches mir der Chauffeur verständnisvoll zu Fuße legte. Nach der kurzen unterhaltsamen Fahrt sehnte ich mich fast schon nach seiner klaren Stimme, die zuvor noch in der Limousine schallte. Ihr Hall lenkte mich von dem sorgenvollen Weg ab, den ich nun für mich beschreiten musste.
Es ward neun und die Sonne stand tief, sodass die Straßenlaternen zündeten. Geblendet von ihrem Licht senkte ich den Kopf und schritt zwischen schimmernden Pflastersteinen. Mein Schatten holte mich schnell ein und drang, von der Nacht gejagt, bis zur nächsten Lichtsäule vor. Er verschwand als ich eine neue passierte, in ihren Strahlen tauchte, immer wieder, bis ich endlich die kleine rote Tür meines Elternhauses vor mir fand.
Nach meinem Eintreten stürmte gedämpfte Aufregung die Treppen herunter; meine Mutter fiel mir um den Hals, tränenübergossen zwang sie sich ein zitterndes Lächeln auf. Auch wenn sie ihre Lippen so eng zusammenpresste, dass es ihr unmöglich war, meine Rückkehr zu loben, konnte ich jedes Wort erlesen, das ihr über die angespannten Augen fuhr. Es äußerte sich all die angestaute Liebe, die sich in ihren dicken Tränen versteckte.
Da ich wusste, worauf ich mich vorbereitet hatte und mir die Schwere der nächsten Stunden anhand des Drucks bewusst wurde, mit dem mir meine Mutter das Handgelenk zur Treppe zog, wagte ich die Stufen ins Zimmer meines Vaters. Doch wirklich vorbereiten kann man sich auf diesen Moment wohl nie. Im Krieg hatte ich viele große Männer sterben sehen, viele von Ihnen wandten sich in ihren letzten Minuten an mich, doch diese Begegnung sollte einen schmerzvolleren Abschied nehmen.
Der alte Mann rief nach meiner Mutter und als ich mich statt ihrer mit einem Knarzen auf seinen alten Scheibtischstuhl setzte, drehte er sich mit letzter Mühe zu mir, lächelte mich herzlich an und mit leichtem Zögern bewegte er dann seine Lippen. Erst glaubte ich nur ein Flüstern zu hören doch nach einem stotterndem Anlauf, stellte er klar und deutlich und doch etwas zaghaft seine Worte für mich auf, die er wohl so lange vorbereitet hatte.
In dieser einen letzten Minute sprach er; „Sohn, du weißt, ich bin sehr stolz auf dich, doch ich möchte mich nicht an blankem Lob aufhalten. Ich möchte, dass du weißt, dass… auch wenn ich immer durch dein Herz atmen werde, meine Kraft, mein Verstand und meine Weisheit dich segnen sollen…“ Nachdem seine Stimme kurz abbrach, mühte er seine Hand an meine Wange. Ich spürte den schwachen Puls, der durch seine adrigen, blassen Hände kroch, wie er meiner gezeichneten Haut schmeichelte, „Versuche dich nicht in mich zu flüchten, ich hatte meine Zeit und du sollst deine haben. Egal in welcher Uniform du stillstehst, dein Kampf wird nie vorbei sein. Und ich möchte, dass du dabei erhobenen Hauptes über das Schlachtfeld ziehst. Solltest du stürzen, möchte ich dir eine Krücke und nicht das Bein sein, das sich dir in den Weg stellt.“