Gedenkbrief für Sieghard Narr

Diese bisher unveröffentlichte Notiz führte ich zum Grab meines Großvaters, nachdem dieser am 11.03.2018 verstarb und ein unschätzbares Kunstvermächtnis hinterließ. Der Weimarer Expressionist und Ölvirtuose Sieghard Narr legte für mein eigenes Kunstlerleben und auch für Schwarzer Flamingo die Grundsteine. Heute werde seine Werke in Galerien quer durch die Welt verteilt, andere hängen in Privatbesitz aus. Als Enkelin möchte ich auf diese Vermächtnis aufmerksam machen, damit es auf keinen Fall in Vergessenheit gerät.

Die tiefgreifendste Botschaft, die mir mein Großvater mit auf den Weg gab, hat mir erst vor kurzem ein Leitmotiv für mein Weltverständnis gegeben; Leben bedeutet für mich Detail

Ich weiß noch als ich ungefähr zwölf Jahre alt war, er hat mir versucht, zu erklären, wie man die Welt nicht mit den richtigen Augen, aber aus dem richtigen Winkel betrachtet, „Du musst die Augen etwas zusammenkneifen, nur ganz leicht und du wirst die Farben und Töne des Waldes herausnehmen können“. Der farbenfrohe Verstand meines Großvaters war für mich nicht nur liebevoll sondern auch lehrend und vor allem verständnisvoll.

Er hatte das gewisse etwas in mir erkannt, die Lider zusammengelegt und etwas in mir gesehen, was er in keinem anderen sehen wollte. Wenn ich zu ihm gefahren bin, dann war das Künstlerurlaub – eine Welt aus genau 60 Jahren, auf den Tag genau, liegen zwischen mir und dem Pinselpoeten.

Unser gemeinsames Leben hat sich erst zuletzt zu genau 100 Jahren ergänzt.

Auch ich konnte in seinen schweren Zeiten den kreativen Verstand empfangen, der mich durch seine hellen Augen anrief.

Es war immer ein leichtes für ihn, die Stille mit Worten und mit Leben zu füllen. Manchmal reichte ein Blick, eine Grimasse oder ein äußerst direkter Spruch dessen Weisheit zu entsetzen und doch nicht selten zu schmunzeln führte. Besonders lebhaft war sein Humor, wie jeder weiß, der den weißgekittelten Wanderer auf seiner Reise begleiten durfte.

Vielleicht war es auch gerade seine lockere Art, die ihn hat stark werden lassen. Ich denke er lebte seinen Humor und brauchte nicht zwangsweise jemanden um sich, um ihn auszuleben.

Sieghard Narr mit Pfeife

Jeder kennt das warme Lachen des Herzenkünstlers, das sich trotz seines imposanten Suppenfängers nicht verstecken konnte; sein Bart war jedoch nicht das einzige Markenzeichen, dass ich so an ihm schätze.

Seine vielen Berufe formten den Überlebenskünstler zu einem standhaften und doch freien Mann, der vor allem die Kunst des Lebens wahrlich meisterte.

Sein Stein des Glücks wurde schon in frühen Jahren zu meiner Leib- und Leitsymbolik durch eigenen wilde Gärten meiner Jugend. Sieghards Freunde und Anhänger wussten um seine Idolisierung Goethes und die runde Skulptur passte nicht nur wegen seiner Form zu ihm, die Kugel auf dem Quader war etwas so Simples und Beruhigendes, doch so herausfordernd zu erschaffen –die Kunst einen künstlichen Körper auf eine noch künstlichere Form zu setzen; dieses Werk in die Natur auszulassen oder die Symbiose aus Abstrakt- und Vertrautheit in ein Bild einzufangen, so etwas zu beherrschen und malerisch in Einklang zu bringen, zeugt nicht nur von Glück, sondern von bärtiger Weisheit! Und auch sein Leben saß einfach und doch stabil auf einem künstlerischen Fundament.

Auch wenn es nicht jeder gleich erkannte und er es selbst oft anders sah und oft auch anders kundtat, er liebte sein Leben und die Einfachheit der Dinge. Sieghard hat etwas erkannt und gelebt, was wir fast alle verlernt haben und wozu wir uns alle nicht trauen würden.

Aber wer weiß, vielleicht begegnet uns auch sein Glück und seine Weisheit, wenn wir die Augen leicht zusammenkneifen und uns das Schmalkaldener Schlossgespenst in der Ferne angrinst.

Alexandra Svenja Meyer ist Der Schnabel hinter Projekt & Poesieblog Schwarzer Flamingo und tritt bei Literarités und Poetry Slams auf, um poetische Performance zu nutzen und Menschen mit abstrakter, rästelhafter Poesie vertraut zu machen. Aufgrund ihrer dekonstruktivistischen und hermeneutischen Intentionen, welche sie hinter den rekursiv eingedeuteten Motiven auswachsender Pflanzen und formbehandeltem oder brechendem Glas einfasst, welche jene Motive sich im Ausfächern der Verständnisebenen eines Textes dynamisch verflechten, ist Alexandra auch als ‚Glasvasenpoetin‘ bekannt. Neben ihrer Tätigkeit als Autorin und der Passion für moderne Poesie ist Alexandra als Cannabis-Patientin und Aktivistin für eine Entstigmatisierung von medizinischem Cannabis und dessen Patient:innen aktiv als Cannabis-Expertin auf Twitter. Für ihr Engagement und die kritische Aufbereitung von Cannabis-Studien wurde sie als Rednerin bei Cannabis-Veranstaltungen eingeladen und ist darüber hinaus politisch aktiv. Ihrem poetischen Schaffen widmet sie, nach eigenen Aussagen, das oben erwähnte Pflanzenmotiv unter der Inspirationsfahne von Cannabis in der Kunst. Aufgrund ihrer Erkrankung sei die Pflanze eine starke Stütze, durch die sie konzentriert in die begrifflichen Spiegelwelten aus gläserner Schreiberei eintauchen könne und von dort aus den Halm bis zur Knospe ihrer Inspiration erklimmt.
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